MR Übersetzungsliteratur
im dt. Frühhumanismus
MRFH | Marburger Repertorium zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus |
Niklas von Wyle
Zeittafel
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Neben dem Ulmer Stadtarzt Heinrich Steinhöwel und dem Eichstätter Domherrn Albrecht von Eyb zählt Niklas von Wyle (um 1415-1479) zu den bedeutendsten Übersetzern im deutschen Frühhumanismus. Seine 'Translationen', die er seit 1461 verfaßte und 1478, kurz vor seinem Tode, in einer Auswahl von 18 Stücken bei Konrad Fyner in Esslingen drucken ließ, zeigen ein bemerkenswertes Spektrum an moderner italienischer Literatur: Enea Silvio Piccolomini, Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni und aus dem Trecento vor allem Petrarca, dessen Altersschrift 'De remediis utriusque fortune' alle andere [...] bücher in lobe wyt vbertreffen (Translationen 314, 19f.). Wyle, der nach eigenen Angaben aus Bremgarten im Aargau stammt, hat die Hälfte seines Lebens in Schwaben, zunächst als Stadtschreiber in Esslingen (1448-1468), dann seit 1469 als Kanzler des Grafen Ulrich von Württemberg am Stuttgarter Hof verbracht. Schon in seiner Esslinger Zeit unterhielt Wyle als Berater und Gesandter rege Beziehungen zu den Höfen im Südwesten, an denen er – wie die Widmungen seiner meisten Translationen zeigen – auch die Anreger und Gönner für seine literarischen Arbeiten fand. Die Pfalzgräfin und Erzherzogin Mechthild gehörte ebenso zu Wyles Stammpublikum wie Markgraf Karl von Baden und seine Gemahlin Katharina von Österreich, in deren Auftrag Wyle mehrere Monate am kaiserlichen Hof in Wien weilte. In den 70er Jahren treten Graf Eberhard im Bart, der Sohn Mechthilds von der Pfalz, und Margarethe von Savoyen, die dritte Gemahlin Ulrichs von Württemberg, als wichtige Adressaten hinzu. Verglichen mit dem literarischen Programm Heinrich Steinhöwels erstaunt immer wieder die breite Palette an literarischen Formen, die Wyle seinem Publikum vermittelt: u. a. Humanistenbrief, Novelle, Rede, Streitgespräch, Traumvision. Auch das Angebot an Themen ist überraschend vielseitig: So zeigt sich vor allem in den frühen Translatzen, die sich bevorzugt an die Pfalzgräfin Mechthild und den badischen Hof richten, eine deutliche Konzentration auf die Liebes- und Ehethematik. Die erste und dritte, an Mechthild gerichtete Translatze enthalten Enea Silvio Piccolominis berühmte Liebesnovelle 'Eurialus und Lucretia' und seinen Brieftraktat 'Wider die Buhlschaft'. Die tragische Liebe zwischen zwei gesellschaftlich Ungleichen behandelt die Novelle 'Guiscard und Sigismunda' ('Decameron' IV, 1), die Wyle 1461 für Karl von Baden nach der lateinischen Fassung des Leonardo Bruni übersetzt. Interesse an der zeitgenössischen Ehetheorie bezeugt auch Wyles sechste, 1463 fertiggestellte Translatze ob ainem alten man zim vnd gebürr ain eewyb zenemen (nach der Vorlage Poggio Bracciolinis 'An seni sit uxor ducenda'). Im Gegensatz zu diesem, die Ehe befürwortenden Dialog steht Petrarcas 'De uxoris amissione', die Wyle in seiner fünfzehnten Translatze zusammen mit einem weiteren Kapitel aus 'De remediis utriusque fortune' übersetzt. Wie bereits das entschuldigende Vorwort an die Erzherzogin Mechthild erhellt, hat Wyle an den misogynen Zügen dieser Schrift Anstoß genommen. In einem geschickten Arrangement läßt Wyle daher in seiner Gesamtausgabe von 1478 auf die Frauenschelte Petrarcas in der sechzehnten Translatze das 'Lob der Frauen' folgen, die an tugenden vnd lobrychen wercken sich dem männlichen Geschlecht, wenn nicht sogar überlegen, sich zum minsten [...] verglychen können (Translationen, 325, 26ff.). Diese positive Einstellung zur Frau war nicht selbstverständlich, wie die Veröffentlichung des 'Hexenhammers' 1485/87 zeigt, der Geistliche wie Laien im süddeutschen Raum rasch in seinen Bann zog. Wyle hat mit seinen Schriften bis weit ins 16. Jahrhundert gewirkt. Wenngleich die Gesamtausgabe seiner Translationen nach 1478 nur noch zweimal verlegt wurde, haben einzelne Übertragungen doch eine beachtliche Wirkungsgeschichte erfahren. So fügte der Augsburger Verleger Hans Steiner 1540 in seine Ausgabe von Eybs 'Ehebüchlein' Wyles 6. und 8. Translation ein und ersetzt die 'Sigismunda'-Novelle im zweiten Teil durch Wyles Fassung. Auch die lateinische Ausgabe der Briefe des Aeneas Silvius Piccolomini ('Epistolae familiares'), die Wyle kurz vor seinem Tode bei Michael Greyff in Reutlingen 1478 herausbrachte, "blieb für Süddeutschland auf längere Zeit die maßgebliche" (Worstbrock, VL6, Sp. 1022). Überarbeitete Fassung aus: Verf.: cbk. Literatur:Bernstein, E.: Die Literatur des deutschen Frühhumanismus. Stuttgart 1978. Bertelsmeier-Kierst, C.: Zur Rezeption des lateinischen und volkssprachlichen Boccaccio. In: Aurnhammer, A./ Stillers, R. (Hgg.): Giovanni Boccaccio in Europa. Studien zu seiner Rezeption in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissance-Forschung 31). Wiesbaden 2014, S. 131-153, , hier S. 137-141f. u. 145f. Hacker, V.: Frauenlob und Frauenschelte. Untersuchung zum Frauenbild des Humanismus am Beispiel der Oratio ad Bessarionem und der 16. Translatze des Niklas von Wyle. Mit kritischer Textedition, Quellenvergleich und Interpretation. Diss. Frankfurt am Main 2002, S. 115-122. Schwenk, R.: Vorarbeiten zu einer Biographie des Niklas von Wyle und zu einer kritischen Ausgabe seiner ersten Translatze (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 227). Göppingen 1978. Translationen von Niclas von Wyle. Hg. von A. v. Keller (Bibliothek des Litterarischen Vereins 57). Stuttgart 1861 (Nachdruck Hildesheim 1967) (digital). Vermeer, H. J.: Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus (15. und 16. Jahrhundert). Bd. 2: Der deutschsprachige Raum. Heidelberg 2000, S. 526-549. Worstbrock, F. J.: Niklas von Wyle. In: 2VL 6 (1987), Sp. 1016-1035. Worstbrock, F. J.: Niklas von Wyle. In: Füssel, S. (Hg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600). Ihr Leben und Werk. Berlin 1993, S. 35-50. | Quelle: Becker, P. J. / Overgaauw, E. (Hgg.): Aderlaß und Seelentrost. Die Ãœberlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln (Staatsbibliothek zu Berlin — Preuß. Kulturbesitz Ausstellungskataloge NF 48). Mainz 2003, S. 161. Quelle: Landessarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg B 126 d S U 177. Quelle: München, BSB, 2. Inc.s.a. 1106a/1, Bl. 8a. Quelle: München, BSB, 2. Inc.s.a. 1106a/1, Bl. 25b. |